Rolf Riehm

Fremdling, rede – Ballade Furor Odysseus für Mezzosopran, Sprecher und großes Orchester (2002)

Gabriele Künzler (Mezzosopran), Jochen Nix (Sprecher), hr-Sinfonieorchester, Ltg. Peter Rundel
Besetzung: Gesang, Orchester
CD
Dauer (h:m:s): 01:15:00
Jewel Case (CD)
Format: 12,5×14 cm
Gewicht: 110 g
Sprache(n) Vorwort: Deutsch
Kreuzberg Records / KR10177
EAN: 4018262261776

19,80 

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Beschreibung

Der Komponist zu „Fremdling, rede – Ballade Furor Odysseus“:

Grundkonzeption: Ballade , Erzähler mit Begleitmusik. Lustvolle Situation wie am Königshof der Phäaken. „Was kam dann?“

Odysseus erzählt von seiner Begegnung mit den SIRENEN, mit vollem Mund. Als warming up die Geschichten von Tantalos und Sisyphos.

Sprecher/Gesang: eine Stimme, aber zwei expressive Aggregatzustände (schon die Disposition „Männerstimme tief – Frauenstimme hoch“ ist insofern ein dramatisches Moment). Wenn dem Sprecher das Herz überläuft, hört man es singen.

Ferne – Nähe der SIRENEN
Die SIRENEN: Sie sind die (mythische) Verkörperung unserer Sehnsucht nach Glück. Ihr Gesang eine mächtige, aber Tod-kummervolle Mitteilung: erreichen wir sie, bringen sie uns um. Wollen wir am Leben bleiben, können wir sie nicht erreichen und werden nie erfahren, was unser Glück ist. Daher sind die SIRENEN das weit Entfernte, mehr noch: das unendlich weit Entfernte. Genau gesagt: das unerreichbar Entfernte. Unerklärlich, verschlüsselt in alle Ewigkeit, all das, was außerhalb von uns sich denken lässt. Die üblichen Ingredienzen kommen hinzu: verlocken, Schönheit, unwiderstehlich.

SIRENEN-Gesang: absolute Souveränität in der Verfügung über die Mittel. Totale Willkürlichkeit in allem.

Wie Odd Nerdrum (norwegischer Maler in den Bahnen von Caravaggio, Lotti u.a.) oder Carlo Maria Mariani: bestimmte, unter Abnutzungs-, Kitsch- oder Sentimentalitätsverdacht stehende Elemente aufgreifen und sie zu Einzelposten der Spannungen machen.

Insgesamt kommt in dieser unaufgelösten Komplexität der SIRENEN-Gesang zum Ausdruck. Diese jenseits einer geschlossenen Ordnung stehende, aus der gegenseitigen Einwirkung von einander unabhängiger Elemente resultierende ästhetische Befindlichkeit, das ist der SIRENEN-Gesang. Je stärker das innere Gefälle zwischen diesen Elementen ist, desto näher sind uns die grundsätzlich fernen SIRENEN.

Ferne: auch handgreifliche Mittel; weg von den Standards der Neuen Musik, etwa in der Führung der Gesangsstimme; aber auch die erwähnten Retro-Mittel (Kanons, Imitationen, schlichte Korrespondenzen u.v.a.), auch voller Griff in das dem großen Apparat angestammte Arsenal (symphonische Massierungen und Strettas, Periodizität, Sequenzen, vieles in der Instrumentation), den Weg der historischen Referenzen und subtilen Entwicklungen wieder zurückgehen oder einfach überspringen. Dann tauchen unbedarfte, durch dialektische Anstrengungen noch nicht zerrüttete Konstellationen auf. In der Außenerscheinung: triviale, unbehauene, rüde Setzungen, vor allem in Harmonik und Phrasenbildung.

Also alles gleichsam historisch-topologische Maßnahmen, mit denen das gewachsene Raumgefühl für Zeitstile und die Einsicht in die jeweiligen Bedingungen für die ästhetischen Mittel verwirrt wird.

Der Odyssee-Text ist formale Folie, auf der es sich dann in mal da hin, mal dort hin fließender, chaotischer Weise bewegen lässt. Gelegentlich gibt es Konnexe zum Text. Im Großen und Ganzen ist es aber eine arbiträre Teile-Rhapsodie, ohne interne Verweise, ein Teil folgt dem anderen in eigener Regie.

Historische Referenzlosigkeit und ästhetische Orientierungslosigkeit als Ausdruck von Ferne, das meine ich.
Bei Homer kommen die SIRENEN dreimal vor:
1. Odysseus referiert Kirkes Anweisungen, wie er an den SIRENEN vorbeikommen kann,
2. Odysseus erzählt den Phäaken, wie es sich abgespielt hat,
3. der Barde fasst zusammen, was Odysseus der Penelope erzählt hat.

Auch ich wiederhole alles mehrmals, auch die Tantalos- und Sisyphos-Geschichten. Es ist ja ein Grundelement des Erzählens, alles immer wieder hören zu wollen. Und zwar, wie Kinder es einfordern, im gleichen Wortlaut. Aber der Tonfall ändert sich: in den Wiederholungen zittert in den perspektivischen Blick auf das aktuell Erzählte (Tantalos, Sisyphos, wissende Kirke etc.) immer schon die dräuende Katastrophe der SIRENEN selbst mit hinein.

„Furor Odysseus“

Ob der Gesang allerdings immer nur die gesteigerte Sprechstimme ist oder nicht doch das Simulakrum der SIRENEN – das bleibt der empfindungsaktiven Peilung des Hörers überlassen.

Jedenfalls wollte ich eine bestimmte Stelle mit einer seitenverkehrten Volte so komponiert haben, dass man den Gesang der SIRENEN tatsächlich durch die Verschleierung einer verschobenen Textzuordnung hindurch zu hören glauben kann: Der leidenschaftliche Ausbruch „Heißes Verlangen fühlt‘ ich, weiter zu hören,…“ ist dem seine Wirkung kalt kalkulierenden Odysseus nicht zuzutrauen. Über den hochtrabenden Worten ertönt demnach der Todesgesang der SIRENEN (sie müssen sich ja umbringen, weil sie Odysseus nicht auf ihre Insel ziehen konnten).
Die Zuordnung bleibt jedoch schwankend, die Emphase des Sirenengesanges kann sich auch auf Odysseus als seine eigene verlagern. Dann hätte Odysseus den gewaltigen emotionalen Furor der SIRENEN für das Ausstellen seiner eigenen Allmachtsphantasien usurpiert.

Der Komponist zu „Double Distant Counterpoint“:

Zur Komposition:
Ein Gedanke von Hans Heinrich Eggebrecht: wie immer man auch die Kunst der Fuge spielt, man v e r f ä l s c h t sie.

Nicht Annäherung, sondern Entfernung: Bach m i s r e a d i n g .

Hierbei stütze ich mich auf eine Theorie in der amerikanischen Literaturkritik, entwickelt von Harold Bloom. Sie besagt, dass das „starke Lesen“ tradierter Texte das Fehl-Lesen (misreading) ist. Einzig durch misreading entsteht neue Literatur.

Gerade der Contrapunctus XI ist ein Stück, das durch seine exorbitante Konstruktion eine stützende, hinweisende oder gar interpretierende Instrumentation kategorisch verbietet. Ich habe dem Stück gegenüber eine fast kabbalistische Haltung eingenommen, eine vom Konzept her widersprüchliche: das einzig angemessene Spiel ist das Nicht-Spiel. Ich versuche nicht, Bach zu verstehen und daraus eine Fassung zu entwickeln. Dieses Stück ist nicht zu verstehen, es ist das, was es ist. Die Frage ist dann, was i c h ihm gegenüber bin. Das habe ich komponiert. Es geht darum, den Berührungspunkt zu finden, in dem sich die gekrümmte Kugel wieder trifft.

Die Technik dazu sind die aus der Rhetorik übernommenen „Figuren“, die Bach selbst auch in der Kunst der Fuge angewandt hat: Wendungen, die noch eine über ihren strukturellen Zusammenhang hinausgehende Bedeutung haben. Auffälligkeiten, Unebenheiten oder auch Fehler des Tonsatzes signalisieren ihr Vorhandensein (Querstand, übermäßige Intervallschritte, falsche oder überhaupt fehlende Dissonanzauflösungen u.v.a.m.). Sie lösen zentrifugale Kräfte aus; eine Bewegung expansiv weg vom Material; die Spannung zwischen Konvention und ihrer absichtsvollen Mißachtung. So verhalte ich mich zum Bach’schen Notentext wie Bach selbst zum Konsens seiner Zeit: fehllesend, misreading. Meine Grundfiguren sind die TMESIS („Zerschneidung“) und die SUPRALATIO („Übertreibung“), und durch die HYPOTHYPOSIS („Abbildlichkeit“) überwuchert eine sprachliche/affektuöse Metaphorik alles und jedes.

Mein Stück ist ein Gemenge aus rhetorischen und narrativen Figuren (darunter besonders ausgeprägt das Bild einer von einem Fluss, der Bachfuge, durchzogenen Landschaft) und bildet als Ganzes gewissermaßen eine SUPER-TMESIS. Es springt zwischen den Typen und Bildern abrupt hin und her, immer in dem Bestreben, im Bannkreis der immensen Auratik des Bach’schen Textes ein Terrain ungewisser Gegenwart zu besetzen.




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